Habitus und Eiskunstlauf: Tonya Harding und Kendrick Lamar erzählen von der Umöglichkeit die eigene Klasse zu verlassen

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Das Biopic ist – etwas flapsig formuliert – sicherlich eine der ärgerlichsten Gattungen mit der große Hollywood-Studios un(ter)bezahlten Filmkritikern ihren Beruf und Kinobesuchern ihr cineastisches Erlebnis versauern. Meist in Überlänge gedreht, inhaltlich ohne Aussage und „basierend auf wahren Ereignissen“ wird schon bevor der erste Take aufgenommen wurde mit einem Auge in Richtung der nächsten Preisverleihung geschielt. Die besten Chancen haben dabei freilich die Hauptdarsteller, gibt es doch nur eine Sache, die Filmpreisjurys noch mehr schätzen, als wenn sich jemand für eine Rolle 82 Kilo runterhungert und als Veganer eine rohe Bisonleber verspeist: Möglichst genauso aussehen und spielen, wie eine realexistierende Person. Mit großer Schauspielkunst hat all das nicht viel zu tun, aber wen interessiert das schon, wenn Christian Bale aussieht wie Dick Cheney?

Craig Gillespies hervorragendes schwarzhumoriges Drama I, Tonya sieht dies zum Glück anders, wurde die Hauptrolle doch mit Margot Robbie besetzt. Und Margot Robbie ist eine der interessantesten und charismatischsten, ja vielleicht die beste junge Schauspielerin unserer Gegenwart. Mit einer proletarischen Eleganz sehen wir in ihr die tragische Figur der Tonya Harding über die Leinwand wandeln. Es ist nicht die Darstellung einer Dokumentation, sondern die eines Films. Nicht möglichst realistisch wird gespielt, sondern kunstvoll. Doch sind es gerade die Nuancen, die Robbies Spiel der realen Tonya Harding hinzufügt und nimmt, die uns die tatsächlichen Charakterzüge der Protagonistin erkennen lassen. Es ist eben diese Abweichung vom Realen, in der sich die Kraft des Films zeigt. Oder wie der Filmtheoretiker Mark Cousins bereits formulierte: „Wie alle Kunst basiert der Film zunächst auf einer Lüge. Doch es ist eine Lüge, die es uns erlaubt die Wahrheit zu erkennen.“

I, Tonya erscheint in diesem Sinne als eine kleine Enklave inmitten einer schier endlosen Ödnis an „oscarwürdigen“ und doch verknöchernden Biopic-Performances von Meryl Streep und/oder Tom Hanks. Wir sehen einen großartig inszenierten Film. Ein Film, der in seinen Montagen, seinem exzessiven, aber nie unpassenden Einsatz von Musik und seinen eleganten Schnitten an die Werke des vielleicht großartigsten aktiven Filmemachers erinnert: Martin Scorsese. Dass dessen nonchalante inszenatorische Brillanz letztlich nicht erreicht wird, kann keine Kritik darstellen.

Auch Scorsese widmet sich in seinem Meisterwerk The Wolf of Wall Street einem realen Stoff, einer erstaunlichen wie in gewisser Weise auch tragischen Geschichte. Doch er erkannte, dass es nicht die Figuren sind, die einer solchen Realverfilmung das Antlitz der Relevanz verleihen. Vielmehr geht es um das, was eine Person und ihre Handlungen repräsentiert, was sie aufdeckt, welch verdrängte Idee sich in ihr spiegelt. Und eben diesen Fokus, an dem die meisten Biopics scheitern (und vielleicht auch scheitern wollen), zeigt auch Craig Gillespie in I, Tonya bravourös. Scorsese spinnt um die Biografie des Börsenmaklers Jordan Belfort eine Geschichte über den systemischen Exzess, der unserer Gesellschaftsordnung innewohnt und hält dem Zuschauer den Spiegel vor, Gillespie macht Tonya Hardings Aufstieg und Fall zu einer beißenden Medienschelte und mehr noch zu einem Werk über Klassendifferenzen, verinnerlichte Zwänge und die Emanzipation sowie Eingrenzung des Femininen.

Die Welt des Eiskunstlaufs ist seit jeher eine weibliche, der Blick auf sie ist jedoch ein männlicher. Es ist nicht ein männlicher Blick in dem Sinne, als dass primär Männer vor den TV-Geräten säßen, vielmehr geht es um den Habitus, in dem sich die Sportkünstlerinnen in der Öffentlichkeit veräußern müssen. Ein Habitus geprägt vom Tänzerischen, von einer von außen übergestülpten femininen Eleganz. Ein Habitus zur Befriedigung des bürgerlich-patriarchalen Blicks und seiner Werte. Ein Habitus dessen Nichteinhaltung nicht nur sportlich, sondern ebenso sozial sanktioniert wird.

Tonya Harding möchte sich eben dieser mittelständischen Einpassung eigentlich nicht unterordnen, doch selbst wenn sie es versucht: Sie scheitert. Sie kann es nicht. Denn der zu verfolgende Habitus ist einer, der nicht primär auf das Geschlecht abzielt, sondern auf die Klasse. Es ist die Bemühung des Bürgertums bestehende Abgrenzungen zu manifestieren, das Außen weiterhin außen zu halten. Gillespie erkennt diesen Konflikt und erlaubt es I, Tonya weiterzugehen als die Vielzahl postmoderner Werke, die sich in identitätspolitischen Diskursen verrennen, nur um der sozialen Frage am Ende doch ausweichen zu können.

Gezeigt wird in unerbittlichen, doch zugleich auch wunderschönen Bildern, wie ein Zweiklang aus Klasse und Sexismus nicht nur die Karriere, sondern zugleich auch die Leidenschaft einer Frau ruiniert. Eine Frau, die in einer anderen Welt vielleicht die größte Eiskunstläuferin ihrer Zeit hätte sein können. Es ist das gleiche Spektrum an Themen, dass auch Parasite, der beste Film des Jahres 2019, adressiert, wenn er Bordieus Habitus-Konzept in Form des Geruchs verbildlicht. Es sind ebenso die Gedanken, die Kendrick Lamar in seinem wundervoll komponierten, intelligenten Stück „Institutionalized“ aufgreift, wenn er rappt: „You can take your boy out the hood / But you can’t take the hood out the homie.“ Erzählt wird von der Unmöglichkeit hinter sich zu lassen, was einem von Anfang an eingepflanzt wurde. Es ist ein Appell, Außenvorgelassenes nicht nur in Bestehendes einzupassen, sondern das Bestehende an sich zu verändern. Eine Ideologiekritik, die gerade durch ihre Unversöhnlichkeit an Wahrhaftigkeit gewinnt.

Nicht zuletzt, und ignorieren darf man dies gewiss nicht, ist I, Tonya vor allem aber auch ein zeitlos berührender Film über eine starke wie tragische Person. Ein Film, dessen Menschlichkeit und Ambiguität von Sufjan Stevens bereits mit passenderen Worten bedacht wurde, als es irgendeine Kritik könnte. Er singt und wir hören:

Tonya Harding, my star
Well this world is a cold one
But it takes one to know one
And God only knows what you are


Just some Portland white trash
You confronted your sorrow
Like there was no tomorrow
While the rest of the world only laughed