Viel wurde über Midsommar als Allegorie auf das Entkommen aus einer toxischen Beziehung geschrieben. So treffend diese Analyse sein mag, Ari Asters Zweiwerk ist zugleich auch eine brillante Gegenwartsanalyse.
Die Art und Weise, in der Ari Aster in der um Superlative nie verlegenen Kritikerwelt aktuell zum neuen Hohepriester des Horrorgenres geweiht wird, ist sicherlich ein wenig übertrieben und doch: Begeisterungsstürme sind angemessen. Wurde in Hereditary noch die Familie auf den Prüfstand gestellt, rückt nun – wie vielfach bereits interpretiert wurde – die Idee der Beziehung und ihre psychologischen Implikationen in den Vordergrund. Wir sehen ein Film über Dani – herausragend verkörpert von Florence Pugh – die traumatisiert ist, die, egal wie schlecht sich alle anderen verhalten, die Schuld immer bei sich selbst sucht. Sie ist in einer Beziehung mit einer Person, die nicht böse, aber unsensibel und ausnutzend ist. Eine psychologisch oft schwer zu ertragende Konstellation, deren Schrecken im Horror des Films gespiegelt wird. Doch Asters zweites Werk funktioniert auch in anderen Lesarten hervorragend: Wir sehen zugleich ein politischen, einen ideologiekritischen Film.
New Age-Faschismus und seine Freunde
Midsommar entführt uns in eine Welt, eine Kommune, die uns auf den ersten Blick fremdartig erscheinen mag und doch Entscheidendes über die Ideologien unserer Zeit zu berichten weiß. Das, was wir hier sehen, wirkt zunächst wie die übliche westliche, studentische Aussteigerfantasie. Zurück zu Natur, die Gemeinschaft als höchstes Gut, Drogen zur Bewusstseinserweiterung, esoterische Rituale als Scheuklappen vor der Wirklichkeit, Abschottung. Eine Szenerie, in die sich auch radikale Impfgegner und Homöopathie-Jünger ohne weiter aufzufallen einbetten könnten.
Ari Aster macht sich nun daran, die Ideologie hinter jenen New-Age-Ideen zu dekonstruieren, welche mit harmloser Hippie-Träumerei letztendlich doch nur wenig gemein haben. Wir sehen blutige Rituale, die Auflösung des Individuums zugunsten eines totalitären Kollektivs, die Abschaffung des Privaten und die Konstruktion einer naturgewollten Kultur und Lebensweise, in der jede Abweichung von einem angeblich natürlichen Verhalten mit tödlicher Härte bestraft wird. Die rückwärtsgewandte Idee, es gebe ein solches „Zurück zur Natur“, ein Zurück zu einem friedvollen, unberührten Zustand purer Harmonie, der bereinigt ist von den Missetaten der Zivilisation, wird hier mit blutiger Konsequenz zu Ende gedacht: Hälsingland, eine mit Freundlichkeit und Blumen geschmückte faschistische Enklave.
Gerechtfertigt wird jenes Unrecht auf alle Weisen, nur nicht auf die Entscheidende: Eine politisch-moralische. Das sei Tradition. Das werde schon immer so gemacht. Andere Länder, andere Sitten. Die Philosophin Martha Nussbaum stellt in diesem Kontext fest:
„Viele meiner Studenten und allgemein viele Personen, denen ich heute begegne, sind Kulturrelativisten. Sie vertreten die Ansicht, es wäre grundsätzlich unangemessen, die Praktiken fremder Kulturen von außen zu kritisieren, egal ob diese mit ansonsten universell gültigen moralischen Werten zu vereinbaren seien oder nicht.“
Martha Nussbaum
Die Falschheit jener Ideen führt uns Aster in Form seiner Protagonisten eindrucksvoll vor. Wir sehen Anthropologie-Studenten, die nicht in der Lage sind, mehr als nur Beobachtungen anzustellen. Die keinen moralischen Standpunkt mehr besitzen und in ihrer politischen Kompasslosigkeit selbst das gröbste Unrecht noch zu rechtfertigen wissen. Es fallen die bekannten Phrasen und Relativierungen: Man müsse eben offen für andere Lebensweisen sein. Und ohnehin, die Leute hier wären „wohl auch nicht begeistert davon, dass wir unsere älteren Bürger ins Altenheim abschieben“. Eben diese vehemente Weigerung, Unrecht als solches zu benennen und diesem mit einer universalisierbaren, aufklärerischen Moral zu begegnen, wird hier mit dem eigenen Leben bezahlt.
Die falsche Toleranz
Ähnlich wie die Kamera zu Beginn, wird in Midsommar auch die Grundkonstellation einer solch relativistischen Weltsicht auf den Kopf gestellt. Der übliche Vorwurf des Eurozentrismus wird durch die kluge Entscheidung, Schweden, vermutlich das sozialliberale Utopia schlechthin, als Handlungsort für das bizarre Treiben zu wählen, bereits im Vorfeld entkräftet, sodass der Fokus anschließend nur auf moralischen Fragen liegen kann und nicht mehr auf identitätspolitischen Ideen. Auch die Wahl der Opfer, die hier weiße Mittelschicht-Studenten sind, zeugt von dem klugen Geist, der Asters Zweitwerk umweht. Dem Publikum wird im Kunstwerk ein Spiegel vorgehalten, während es in der Realität meist die Marginalisierten sind, die leidtragend sind. Die Frauen, die kein Mitspracherecht haben, die zwangsverheiratet werden, die unter rituellen Genitalverstümmlungen leiden. Die Homosexuellen, denen Leben bedroht wird für die Art, in der sie lieben. Die politisch Andersdenkenden in repressiven Gesellschaften. Mit einer gewissen Süffisanz darf zur Kenntnis genommen werden, dass gerade dieses Werk nun in Schweden der kulturellen Aneignung bezichtigt wird.
Wenn wir Midsommar im Kino sehen, zeigt sich erneut: Der wahre Horror unserer Existenz liegt nicht in gewalttätigen Ausbrüchen und angeblichen Ausnahmezuständen. Vielmehr sollten wir unseren Blick für die Furchtbarkeit der längst zur Normalität gewordenen Strukturen, die uns tagtäglich umgeben, schärfen. Für die Art und Weise, in der wir miteinander umgehen, für die Psychologie unserer Beziehungen, für unsere realpolitische Situation, für die Ideologien, die uns vorgaukeln keine zu sein, während sie sich selbst als Naturzustand verkleiden. Die Meisterwerke des Genres verschreiben sich der Dekonstruktion jener Schrecken. Trotz einiger szenischer Albernheiten und ein paar Pacing-Problemen im Mittelteil gehört Midsommar zweifelsfrei dazu.