Wider der totalitären Normalität: „Laurence Anyways“ und die Liebe unter dem wachsamen Auge des Bürgertums

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Auf Nachfrage von John Searle, warum er denn so überkomplex, wirr, ja unverständlich schreiben würde, wo er doch im Gespräch rede wie jede andere Person, gab Michel Foucault eine erhellende Antwort: Es sei so, dass man in Frankreich intellektuell nicht ernstgenommen würde, wenn einen jeder verstünde. Es wird angenommen, was die Vielen sich erschließen können, das müsse somit auch trivial sein.

Der schwarze Schwan

Betrachten wir die Welt des Autorinnenfilms drängt sich ein Vergleich auf: Ist es mitunter so, dass wir all die verkopften, spröden Dramen, in denen sich kriselnde Ehepaare in spartanisch eingerichteten Wohnzimmern anschweigen, nur deshalb sehen müssen, weil die Filmschaffenden Angst haben, mit ihren Werken als substanzlos wahrgenommen zu werden? Weil Unterhaltsamkeit, der Wille zu Ästhetik, zum Schönen und ein intuitiver Zugang immer auch von der Oberflächlichkeit der eigenen Kunst zeugen? Sooft wir diese These beim Besuch im Programmkino bejahen müssen, es gibt ihn noch, den schwarzen Schwan: Xavier Dolan. Und Laurence Anyways ist das bisherige Meisterwerk dieses jungen Ausnahmeregisseurs.

Wir sehen einen Film von unfassbarer Schönheit. 168 Minuten und dabei fast jede Szene wie ein von Popmusik und unkonventioneller wie stilsicherer Kameraarbeit gerahmtes Gemälde für das Kinokunstmuseum der 2000er-Werke. Keine kargen Fassaden, die von graugekleideten Menschen bewohnt werden, sondern der Mut zur Melodramatik, zur Opulenz, zum Pathos, manchmal gar zum Kitsch, nie jedoch zur pathetischen Manipulation des Zuschauers.

In einer der ersten Szenen läuft „Funeral Party“ von The Cures Post-Punk-Rohdiamanten Faith aus dem Jahr 1981 und setzt mit seiner melancholischen Eleganz den Ton für Vieles, was noch kommen wird. Wir folgen Melvil Poupaud und Suzanne Clément, die uns inmitten dieser Szenerie mit brillanten Darbietungen abholen und in die Realität ihrer elf Jahre dauernden Beziehung entführen. In die Phasen des taumelnden, fast ohnmächtigen Glücks, in die Schwierigkeiten der Liebenden in einer konsumorientierten Welt, die weder besonderen Wert auf die künstlerischen Berufe von Laurence und Fred legt, noch das schönste Gefühl der Welt zu schätzen weiß. In die Verzweiflung des Auseinanderbrechens nach vielen Jahren. In das Wiederzusammenfinden?

Totalitäre Normalität

Wären die Besonderheiten dieses ungewöhnlichen Machwerks an dieser Stelle auserzählt, wir hätten eine faszinierende, letztlich aber doch vergleichsweise konventionelle Liebesgeschichte gesehen. Doch genau dieser Begriff der Konvention, einer scheinbaren Normalität, die bei uns auch immer schon die Übereinstimmung des sozialen Geschlechts mit der biologischen Physionomie mitdenkt, steht Laurence Alia im Weg. Denn sie ist eine Trans-Frau, die unter ihrem Körper leidet, mittlerweile in ihren Mitdreißigern, doch verstellt ein Leben lang. Und dies soll sich nun ändern.

So sehen wir nicht einfach nur die Schwierigkeiten, denen Laurence und Fred in ihrer Liebe begegnen müssen durch die Befreiung aus einem fast schon verinnerlichten Zwang. Nicht einfach nur die private Herausforderung. Nein, viel mehr ist es das dichtgewebte Netz des gesellschaftlich Normalen, die Blicke, die Kommentare und – in ganz unverhüllter Diskriminierung – der Verlust des Lehrerberufs, sprich all das, was das Private politisch macht, dem sich Laurence Anyways eindrucksvoll entgegenstellt.

Die Ästhetik des Werks ist dabei immer auch eine, die mit den Mitteln des Films auf die antrainierte, die sozialisierte Dimension einer Geschlechtsperformance verweist, die es tagtäglich zu bestätigen gilt, um dem wachsamen Auge des Bürgertums zu entgehen – und das gilt nicht nur für Transsexuelle, sondern für jedes Mädchen, das in der Schule auffiel, und für jeden Mann, der einer Ellenbogenmentalität abgeschworen hatte und sich des Hohns der Anderen sicher sein durfte. Sicher, der Grad der Betroffenheit variiert, doch die daraus erwachsende Solidität sollte einheitlich sein. Und so sehen wir verwaschene Kamerafahrten, die das Geschlecht der Person verhüllen, der wir gerade folgen, einzelne Aufnahmen, die die Körper der Figuren nur ausschnitthaft einfangen und den verinnerlichten Durst zu wissen, mit wem wir es zu tun haben, entsagen.

Eine Ästhetik mit dem cineastischen Finger stets auf den Wunden der konstruierten Komponente eines Passepartouts, das von denen, die hineinpassen gerne zum Naturgemäßen verklärt wird. Der Schaden, den sie damit anrichten, wird einer Szene in der Mitte des Films sichtbar, deren Intensität einer Urgewalt gleicht. Einer Szene, so gut, dass sie bis ins Mark erschüttert.

Kino gegen die Einpassung

Fred und Laurence sitzen beim Samstagsbrunch im kleinbürgerlichen Frühstückslokal, dessen schnattrige Atmosphäre zusammen mit den durchdringenden, analysierenden Blicken ihrer unterkühlten Besucher für jeden, der nicht in den Kategorien operiert, die von der Mitte der Gesellschaft als normal definiert wurden, etwas Totalitäres haben wird. Ein vergleichsweise harmloser Kommentar der Serviererin, ein Blick zu viel sorgt für die Eskalation. Fred hält es nicht mehr aus. „Darf man hier nur als angepasster Mensch existieren? Hat man in dieser Scheißstadt den nirgends seine Ruhe?“, faucht sie ihr mit einer fast schon physischen schauspielerischen Wucht entgegen, während das bürgerliche Porzellanservice auf den Bodenfliesen zerschellt.

Es ist eine universelle Wut gegen einen alles normierenden Konservatismus, die weit über die Sphären der portraitierten Geschlechterdimension hinausragt. Die so viele in dieser Gesellschaft, unserer Gesellschaft, kennen. Alle, die braune, schwarze oder gelbe Haut haben. Die Frauen sind. Die jüdisch sind. Die introvertiert sind. Die mit Heterosexualität nichts anfangen können. Die kleinwüchsige oder dicke Körper haben. Die andere Kleidung tragen möchten als Jeans und T-Shirt. Die aus verknöcherten Familienstrukturen stammen. Und all die anderen. Würden wir in einer besseren Welt, in einem anderen System und unter neuen Vorzeichen leben, wäre Laurence Anyways ein Film über das Private, doch das tun wir nicht. In unserer Gegenwart ist das Politische dieser Liebesgeschichte nach wie vor unausweichlich.