Vom Verlust der Zeitlichkeit: Vaporwave, »Uncut Gems« und dass Kino des Exzesses

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Vor knapp zehn Jahren erschien ein höchstseltsames Album am Horizont der Indiegemeinde: Eccojams Vol. 1 von einem Künstler mit dem Namen Chuck Pearson. Ein Album, das einen der Grundsteine für ein Genre, das später Vaporwave getauft wurde, legen sollte. Die Songs nicht neu, sondern Pop-Klassiker der 80er-Jahre, doch teilweise ins Unerkenntliche verfremdet. Musik in Zeitlupe, voller Hall, in Einzelteile zerlegt und neuarangiert, elektronisch aufgeladen, in die Länge gezogen wie Platten, die in zu langsamer Geschwindigkeit abgespielt werden. Wo Künstlerinnen wie Amy Winehouse oder Adele nostalgische Musik produzierten, die ohne Probleme auch vor 50 Jahren erscheinen hätte können und maximal durch eine modernere Produktion aufgefallen wäre, schafft Chuck Pearson ein Bewusstsein für eben diesen popkulturellen Stillstand, die ewigen Wiederholungen, den Verlust jeglicher Zeitlichkeit. Aus seinen Produktionen sprechen die Geister der Vergangenheit, das Versprechen einer verlorenen Zukunft, das nie eingelöst wurde.

Die Aufkündigung der Zukunft

Mit bürgerlichem Namen heißt Chuck Pearson eigentlich Daniel Lopatin. Mit seinem wohl bekanntesten Projekt, Oneohtrix Point Never, hat jener nicht nur einige der innovativsten und besten Alben der 2010er-Jahre herausgebracht, er orchestriert ebenso die Filme der Safdie Brüder. So auch Uncut Gems. Doch wie passt das zusammen? Die Zeitlupen-Musik von Eccojams Vol. 1 und die dauergestressten Bilder und Charaktere dieses herausragenden Zweitwerks? Nun: Beide handeln von den Konsequenzen des Exzesses, vom Verlust des rechten Maßes, vielleicht gar vom Verlust von Zeitlichkeit per se. Aus ihnen spricht, um die Worte des Kulturtheoretikers Mark Fishers zu bemühen, der »Schmerz der Unerreichbarkeit« einer langfristigen, besseren Zukunft.

Uncut Gems als stressig zu bezeichnen wäre Understatement par excellence. Der Arzt ruft an, weitere Telefone klingeln. Im Vorderzimmer die Schuldeneintreiber, es hämmert an der Tür zum Hinterzimmer. Zwischen ihnen die Basketballikone Kevin Garnett und seine Crew. Jemand möchte gefälschte Rolex-Uhren verkaufen, die Tür klemmt. Alle reden, das alles passiert gleichzeitig und immer auch kurzfristig. Wenn das Kino die Möglichkeit liefert, die größte Gefahr zu erleben ohne ein tatsächliches Risiko eingehen zu müssen, dann ist dieser Film vermutlich das Sentiment eines Herzanfalls nur ohne klinische Symptome.

In ihrem hervorragenden Essay The Wolf of Wall Street and The New Cinema of Excess argumentiert die Filmwissenschaftlerin Izzy Black, Scorsese habe mit seinem Werk eine Bildsprache, eine passende cineastische Form geschafften, um die völlige Abstraktion, die Leere, die korrupierten Mechanismen und die Hektik der Finanzmärkte für das kritische Kino wieder fruchtbar zu machen. Wenngleich Uncut Gems im Vergleich zu Scorseses Meisterwerk die kleinere Geschichte erzählt, sind die inszenatorischen Parallelen evident. Auch die Safdie Brüdern erzählen vom Exzessiven im Ökonomischen, von freien Märkten, die es nicht gibt, und von der gekappten Verbindung zwischen digitalen Finanzwerten und realer Materialität. All das passiert in der kleinen Welt eines wettsüchtigen New Yorker Diamanten-Händlers. Mit einer Ausnahme.

Der schöne Fetisch des Geldes

Die erste Szene des Films zeigt uns eine äthiopische Diamantenmine. Zwei Minenarbeiter finden den titelgebenden schwarzen Opal, faustgroß, rein. Doch längst schon ist klar: Vom möglichen Profit ihres Fundes, werden sie nie etwas abbekommen. Sie haben keine Möglichkeit ihn zu verkaufen, ihn schätzen – und auf diesen Erwartungswert kommt es letztendlich an – zu lassen. Eine Chance hatten sie nie. Man sollte allein diese Szene einem jedem Drittsemestervolkswirt so lange zeigen, bis er es schlichtweg nicht mehr vermag die Worte „freier“ und „Markt“ in die gewünschte Ordnung zu manövrieren.

Der Stein landet in New York auf dem Tisch von Adam Sandler, einem Kleinganoven irgendwo in der Mitte. Wettsüchtig, mitten in der Scheidung, bedroht von denen, die über ihm stehen, nach unten austretend nach allem, was schwächer scheint. Er leiht ihn Kevin Garnett, der in dem Opal fast schon magische Fähigkeiten sieht, die ein Stein nie haben kann. Als Sicherheit erhält er dessen Meisterschaftsring, den er wiederum im Pfandhaus zu Geld macht. Das Geld schließlich, das eigentlich nicht seines ist, wird auf die Leistung Garnetts im nächsten Spiel gesetzt. Es ist ein absurder Kreislauf, in dem alles Materielle einem Fetisch gewichen scheint: Dem Fetisch des Geldes, des Profits und der Gewinnmaximierung, dessen Ideologie – so wird auf allegorische Weise gezeigt – mittlerweile als spirituelles Aphrodisiakum in den Alltagsverstand des Finanzmarktes eingesickert ist. Die Leidtragenden sehen wir nicht nur in den Minen der ersten Szene, sondern fast überall. Ein Film wie ein Plädoyer für die Ideologiekritik.

Uncut Gems ist ein furioses Werk – so rasant, wie klug. Ein Film, der sich jeglicher Moralisierung verweigert und dessen Kritik gerade deshalb wahrhaftig erscheint. Am Ende ist es doch noch immer so, wie es der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt in Bezug auf Adam McKays ebenso fantastischen Film über die Wirtschaftskrise, The Big Short, formuliert: Wer auf so geistreiche wie innovative Weise über intransparente Finanzprozesse lernen möchte, der solle doch am besten ins Kino gehen.